In der Zeit nach Ende des zweiten Weltkrieges war so mancher nicht gerade auf Rosen gebettet. Vieles musste erst wieder aufgebaut und jede Mark mindestens dreimal herumgedreht werden, ehe sie einen neuen Besitzer fand.
Meinen Eltern, die 1954 geheiratet hatten, ging es nicht anders. Was lag da schon nahe, als wenigstens ein Zimmer der angemieteten Wohnung an einen Studenten unterzuvermieten. Aachen als Universitätsstadt bot auch damals schon eine Vielzahl an Studenten und so kam es, dass eines Tages ein junger Musikstudent sich mit meinen Eltern das Dach über dem Kopf teilte.
Da meine Eltern tagsüber der Arbeit wegen außer Haus waren, konnten sie sich von dem musikalischen Talent ihres Untermieters leider kein Bild machen. In den ersten Wochen schien dies auch nicht von Nöten zu sein. Alles ging seinen gewohnten Weg, tagein, tagaus. Bis zu dem Tag, als der erste Hausbewohner des stundenlangen Gefiedels wegen, meine Mutter nach ihrem wohlverdienten Feierabend mit ernsthaften Drohgebärden abfing. Meinem Vater schien es zu späterer Stunde nicht anders ergangen zu sein. Voller Entsetzen über das Verhalten ihres bisher unauffälligen Mitbewohners betrat meine Mutter ihr heimisches Gefilde. Hier herrschte allerdings Totenstille. Keine Musik, kein Gefiedel, kein Untermieter! Nichts als die göttliche Ruhe! Also glaubten meine Eltern erst einmal, dass ihr Nachbar wohl einen äußerst schlechten Tag gehabt oder irgendeine seiner Tabletten üble Nachwehen verursacht haben musste und gingen an diesem Abend unbesorgt ins Bett.
Am nächsten Tag ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Meine Mutter verließ in aller herrgottsfrühe das Haus und mein Vater schloss, wie jeden Morgen, erst einmal die Batterie an seinem Motorrad an, die er wie jeden Abend mit in sein Heim nahm, damit sie ihm nicht über Nacht entwendet wurde. Und dann war auch mein Vater auf und davon. Den jungen Studenten überließen sie wie gewohnt sich selbst und hofften nun das Beste für alle.
Als meine Mutter an diesem Nachmittag gerade im Begriff war, die Haustüre zu öffnen, wurde ihr die Pforte bereits von zwei Nachbarn recht unsanft aus der Hand gerissen. Mit geschwollener Brust und grimmigen Blicken drohten sie ihr nebst Gatten die Wohnungstüre einzutreten, wenn ab sofort nicht dieses martialische Geigenspiel enden würde. Die gesamten Hausbewohner wären tagsüber diesem Martyrium ausgesetzt und hätten das Gefühl, als würde jemand auf einer verrosteten Badewanne eine Säge schärfen wollen. Bei den Geräuschen würden selbst im Regenwald die Spinnen vom Blatte fallen. Diese schrägen Töne wären eine absolute Zumutung; was meine Eltern sich eigentlich dabei denken würden?
Vater und Mutter hatten sich für den nächsten Tag erst einmal beide krankgemeldet und wie versteinert in ihren vier Wänden verharrt. Na ja, ihre Versteinerung hat sich dann doch schneller gelöst als gedacht, da nun auch sie sich erstmalig davon überzeugen konnten, dass ihr Untermieter nicht gerade ein begnadeter Musiker war. Alleine der Gedanke an das Wort „Musikalität“ war hierfür völlig deplatziert. Himmel was für ein Katzenjammer. Die armen Nachbarn!
Entschlossen betrat mein Vater das Zimmer des Musizierenden und offerierte ihm, dass er gerne im Park weiter üben könnte. Es wäre ihm egal, wenn dort alle Blätter vom Baume fielen. Er müsste schließlich an das Wohl seiner Nachbarn denken und bei denen stünde es nicht gerade zum Besten. Er könnte schließlich nicht alle Nachbarn zum Psychiater begleiten, die durch die schrägen Töne, die er fortwährend seinem Instrument entlocken würde, am Rande eines Nervenzusammenbruches wären. Damit wäre jetzt ein für alle Male Schluss.
An diesem besagten Tage wurde meinen Eltern gottlob nicht die Wohnungstüre eingetreten, es stand kein wütender Nachbar mehr im Hausflur und das unliebsame Geigenspiel hatte endlich sein Ende gefunden.
Ja, und mit dieser Geschichte war auch mein innigster Wunsch Violinen Unterricht zu erhalten gänzlich zunichtegemacht worden.